Integrationsgesetz – Čagalj Sejdi: Nur wer in einer Gesellschaft gut aufgenommen wird, kann auch wirklich mitmachen

Redebeitrag der Abgeordneten Petra Čagalj Sejdi (BÜNDNISGRÜNE) zum Gesetzentwurf der Staatsregierung: „Gesetz zur Förderung der Integration und Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund im Freistaat Sachsen“ Drs 7/15050

87. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Donnerstag, 02.05.2024, TOP 5

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir wollen die Integration und Teilhabechancen von Menschen mit Migrationsgeschichte verbessern. Um das zu erreichen, beschließen wir heute das erste Gesetz für Integration und Teilhabe in Ostdeutschland. Im Koalitionsvertrag haben wir damals festgehalten, dass wir Integration als Gemeinschaftsaufgabe von Zugewanderten, Staat und Gesellschaft verstehen.

Das Integrations- und Teilhabegesetz ist ein zentrales und wichtiges Anliegen in dieser Koalition.

Ziel war es, den Gesetzesentwurf bis 2021 zu beschließen. Dass wir nun erst drei Jahre später dazu kommen, hat verschiedene Gründe – der Prozess der Aushandlung war lang. Die Arbeit zum Gesetz startete mit einem breiten und vielversprechenden Beteiligungsprozess, bei dem viele verschiedene Akteure zu Wort kamen und ihre Ideen, Forderungen und Wünsche einbrachten. Viele von ihnen fanden sich im ersten und meiner Meinung nach wirklich guten Gesetzentwurf wieder.

Wir BÜNDNISGRÜNE haben dem Sozialministerium damals noch weitere, umfassende Änderungs- und Verbesserungsvorschläge vorgelegt. Zum Beispiel:

  • die Erweiterung des Gesetzes um den Aspekt der Antidiskriminierung;
  • die Stärkung der Migrant*innenbeiräte und
  • die Verpflichtung der Kommunen zur Einrichtung von Migrant*innenbeiräten;
  • kein Fokus auf „fordern“, sondern nur auf „fördern“.

Der heute vorliegenden Entwurf ist das Ergebnis eines langen und nicht immer leichten Prozesses der Kompromissbildung. Er ist unser kleinster gemeinsamer Nenner.

Dass wir in dieser Koalition sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was Integration bedeutet und wie sie gelingen kann, ist kein Geheimnis.

Der Beschluss ist mir dennoch sehr wichtig.

Als Kind einer Familie mit Migrationsgeschichte weiß ich, was es bedeutet, zwischen mehreren Sprachen, Kulturen, Nationalitäten, Religionen u.v.m. zu leben und welchen Spagat dies bedeutet, für diejenigen, die zugewandert sind, ebenso wie für ihre Nachkommen und Familienangehörigen. Integrations- und Teilhabearbeit muss hier ansetzen, diesen Spagat zu ermöglichen und zu erleichtern. Denn nur, wenn wir uns in einer Gesellschaft gut aufgehoben und uns zugehörig fühlen, können wir auch gut mitmachen.

Im Integrationsgesetz des Landes Nordrhein-Westfahlen habe ich einen Satz gefunden, der dies sehr gut zum Ausdruck bringt und den ich mir auch in Sachsen gewünscht hätte: Integration ist „… die Förderung eines umfassenden gesellschaftlichen und politischen Prozesses von Begegnungen und Austausch aller Menschen, unabhängig davon, ob und welche Einwanderungsgeschichte gegeben ist, zur Gestaltung und Pflege einer gemeinsamen Identität, Heimat und Erinnerungskultur…“

Sich zugehörig fühlen, ist ein zentrales Bedürfnis von Menschen. Es wird immer dann auf die Probe gestellt, wenn wir unser räumliches oder soziales Umfeld verlassen, wenn wir etwa in eine neue Umgebung umziehen, wenn wir unseren Arbeitsplatz wechseln oder unsere Kinder auf eine neue Schule kommen.

Ich möchte bei dem Beispiel Schulwechsel kurz stehen bleiben. Stellen Sie sich vor, Sie ziehen um, aufs Land nach Bayern oder in die Stadt nach Hamburg zum Beispiel. Die Menschen, die Kinder sprechen einen anderen Dialekt. Das Schulsystem ist ein bisschen anders und die Lehrpläne vielleicht auch. Ihr Kind kennt niemanden. Was würden Sie sich wünschen für Ihr Kind?

Eine Klasse, die mit verschränkten Armen dasitzt und Ihr Kind kritisch mustert. Niemand, der einen Sitzplatz neben sich anbietet. Vielleicht wird über den sächsischen Dialekt gelacht oder es kommen dumme Sprüche über „den Osten“.

In so einer Klasse wird Ihr Kind es schwer haben, sich der Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Selbst dann, wenn es kontaktfreudig ist und mit viel Energie immer wieder versucht sich einzubringen. Es muss nämlich zunächst einmal mit Ablehnung zurechtkommen. Mit Einsamkeit und mit der Riesenaufgabe, erst mal zu beweisen, dass man zur Gruppe passt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Ich habe in Sachsen recht oft das Gefühl, dass unsere Gesellschaft so reagiert, wie in meinem Beispiel von der neuen Schulklasse. Nach wie vor hält sich recht hartnäckig die Forderung. Die Zugewanderten müssten sich anpassen, sie müssten unsere Leitkultur – was auch immer das bedeutet – übernehmen.
Doch das ist nicht der richtige Weg, weder in einer Schulklasse noch in unserer sächsischen Gesellschaft.
Nur wer gut aufgenommen wird, ist auch bereit Neues anzunehmen und umzusetzen.

Und genau dafür brauchen wir ein Integrations- und Teilhabegesetz – damit wir uns selbst Regeln setzen, wie wir Menschen aufnehmen, wie wir gemeinsam leben und wie wir Hilfe und Unterstützung anbieten.
Das soll nicht heißen, dass Integration nur die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft ist. Natürlich sind Spracherwerb, die Einhaltung der Gesetze, die Bemühungen sich in die Gesellschaft einzubringen wichtig aber sie geschehen automatisch, wenn man in einer neuen Gesellschaft lebt, die auch bereit ist für ein gemeinsames Leben. Es sollte eigentlich gar nicht um Integration gehen, sondern um Inklusion: Denn wenn wir eine Umgebung schaffen, die allen Menschen gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht, dann passen sich Menschen auch an ihre Umgebung an. Inklusion erreicht Integration.

Der heute zum Beschluss vorliegende Gesetzesentwurf setzt hier zwar an, geht aber leider nicht weit genug:

  • Er konzentriert sich großteils auf Geflüchtete Menschen und vergisst, dass Migration mehr ist als nur Flucht.
  • Er setzt an bei Dingen oder Leistungen, die zu erbringen sind, nimmt aber wenig Bezug auf die Leistungen und Kenntnisse, die mitgebracht werden – z.B. Sprachkenntnisse, Bildungsabschlüsse, Berufserfahrungen, …
  • Er setzt an mit Beiträgen zur gemeinsamen migrationsgesellschaftlichen Kompetenz, geht aber nicht weit genug, damit dieses auch wirklich in allen alltagsrelevanten Bereichen Fuß fassen.
  • Er spricht von einer besseren migrationsgesellschaftlichen Repräsentanz, schränkt den Bereich aber stark ein.
  • Er setzt Regeln für die kommunale Integrationsarbeit, macht Integrationsarbeit aber nicht zur kommunalen Pflichtaufgabe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir haben hier heute zwei Entwürfe für ein Gesetz vorliegen welches Teilhabe und Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte regeln soll. Ich muss offen und ehrlich zu geben, dass es mir selbst schwer fällt, genau den Entwurf abzulehnen, der eigentlich viel mehr mit dem übereinstimmt, was ich und was auch wir Bündnisgrüne von einem solchen Gesetz erwarten. Stattdessen werden wir dem Entwurf zuzustimmen, dem noch vieles fehlt. Doch wie ich es bereits anfangs betont habe, der Entwurf, den wir hier heute von der Staatsregierung vorliegen haben, ist das Produkt eines langen Prozesses und es ist der gemeinsame Nenner, auf den wir uns in einer Koalition einigen konnten, die viele unterschiedliche Vorstellung davon hat, was Integration ist und wie sie umgesetzt werden soll. Und genau deshalb bin ich froh, dass wir unser Gesetz heute hier beschließen und endlich diesen wichtigen Schritt gehen. Es wird aber sicher nicht der letzte Schritt in diese Richtung sein. Es ist an uns, das Gesetz und seine Wirkungskraft nun zu begleiten, zu evaluieren und auch zu verbessern – so wie es für unser gemeinsames Sachsen wichtig ist!