Aktuelle Debatte zur Unterbringung Geflüchteter – Čagalj Sejdi: Es braucht Solidarität und eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen
Redebeitrag der Abgeordneten Petra Čagalj Sejdi (BÜNDNISGRÜNE) zur Fachregierungserklärung des Staatsministers für Regionalentwicklung Thomas Schmidt zum Thema: „Regionalentwicklung für lebendige Regionen“
59. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 09.11.2022, TOP 3
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
circa 57.000 Menschen sind aus der Ukraine seit Kriegsbeginn zu uns gekommen. Ich bin stolz, mit welch überwältigender Solidarität die Menschen hier in Sachsen aufgenommen wurden. Es wurden enorme Kraftanstrengungen unternommen um die große Zahl an Menschen unterzubringen, um die Kinder in Kita und Schule unterzubringen und um den Eltern und Großeltern Sprachkurse anzubieten.
Natürlich hat es geholpert. Nicht alles ist glatt gelaufen. Aber Alle: Bund, Länder, Kommunen und Zivilgesellschaft haben an einem Strang gezogen – auch mal gestritten, das ist bei so einer gewaltigen Aufgabe und unterschiedlichen Meinungen und Herangehensweisen wohl auch nicht anders zu erwarten.
In diesem Herbst stehen wir jetzt vor der nächsten Herausforderung. Bisher sind in diesem Jahr knapp 14.000 Asylsuchende nach Sachsen eingereist. Menschen, die vor allem aus Syrien oder Afghanistan kommen. Menschen, die wie vor einem halben Jahr die Ukrainer*innen. vor Krieg, vor einer lebensbedrohlichen Sicherheitslage fliehen.
Und dennoch ist die Stimmung hier in Sachsen plötzlich eine andere. In der Öffentlichkeit werden Schlagworte wie „irreguläre“ oder gar „illegale Migration“ und Grenzschließungen diskutiert. In Einsiedel demonstrieren Menschen gegen die Nutzung eines Ferienlagers für die Unterbringung der Geflüchteten. In Bautzen und in einer Gemeinschaftsunterkunft südlich von Leipzig wurden Brandsätze geworfen.
Wo ist heute die Solidarität, das gemeinsame an einem Strang ziehen?
Die Debatten um die Frage, ob wir Geflüchtete unterschiedlich behandeln, ob wir gar von Geflüchteten „erster und zweiter Klasse“ oder „guter Flüchtling – schlechter Flüchtling“ sprechen, erreicht in dieser Zeit leider eine erschreckend neue Qualität. Warum helfen wir den Menschen aus der Ukraine, aber schauen größtenteils weg, wenn die Menschen aus Afghanistan, Syrien oder anderen Ländern kommen?
Liebe Kollegen und Kolleginnen,
ja, es gibt Ängste und Sorgen: Ich verstehe die Kommunen, die jetzt, nachdem sie viele Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen haben, ächzen und nicht mehr wissen, wo und wie sie weiteren Wohnraum auftreiben sollen.
Wir dürfen die Kommunen deshalb nicht allein lassen. Die Menschen, die wir aufnehmen, werden in den Kommunen untergebracht. Die Kommunen müssen Unterkünfte zur Verfügung stellen. Sie müssen sicher stellen, dass genügend Kitaplätze und ausreichend Kapazitäten in den Schulen vorhanden sind. Und sie müssen das dafür notwendige Personal einstellen.
Dafür brauchen sie Planungssicherheit. Sie brauchen finanzielle Sicherheit und die Gewissheit, dass wir – und damit meine ich den Freistaat, aber auch den Bund – hinter ihnen stehen und sie nach Kräften unterstützen.
Die Debatte war in den vergangenen Wochen vor allem von Streit geprägt, Streit über Finanzierung und Zuständigkeiten. So lösen wir keine Krisen!
Ich begrüße es ausdrücklich, dass der Bund nun vergangene Woche zugesagt hat, den Ländern ab 2023 eine flüchtlingsbezogene Pauschale von 1,25 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Ich finde auch den Vorstoß von Ministerin Faeser, jetzt alle Liegenschaften im Besitz des Bundes mietzinsfrei zu überlassen, sehr gut.
Aber da geht noch mehr. Diesen Denkanstoß sollte sich der Freistaat ebenfalls zu Herzen nehmen und sich fragen: „Gibt es Liegenschaften in Sachsen, die entbehrlich sind?“
Welche finanziellen und organisatorischen Unterstützungen können wir noch leisten, damit die Kommunen Unterkünfte schaffen können und anschließend auch die Integration der Menschen möglich ist.
Vor allem müssen wir konstruktiv im Gespräch bleiben und dürfen nicht Zuständigkeiten hin und her schieben.
Es wäre auch an der Zeit, neuen Ideen unvoreingenommen gegenüberzustehen und jetzige Strukturen zu überdenken: Wir müssen dezentrale Unterbringungsmöglichkeiten stärker nutzen! Dezentrale Unterbringung erreicht nachweislich eine schnellere und bessere Integration in die Nachbarschaft, es ist bewiesen, dass es in vielfältigen Nachbarschaften viel seltener zu menschenfeindlichen Angriffen kommt und dass viel mehr gegenseitige Hilfe und Unterstützung entsteht. Man lernt sich schneller kennen und steht zu einander.
Was spricht dagegen, wenn Geflüchtete mit guter Bleibeperspektive bei ihren schon hier lebenden (anerkannten) Verwandten leben möchte – bei den ukrainischen Geflüchteten hat diese Möglichkeit der Unterbringung Druck aus dem Kessel genommen.
Und wir dürfen bei all den Anstrengungen, die wir unternehmen, auch nicht außer Acht lassen: Unterbringung darf nicht irgendwie erfolgen.
Zeltstädte sehen wir BÜNDNISGRÜNE als äußerst kritisch. Vor allem jetzt vor dem Winter kann dies nur die absolute Notlösung sein. Wenn eine andere Unterbringung vorübergehend nicht möglich ist, dann müssen Familien und Kinder davon ausgenommen sein. Unser Anspruch muss sein, dass die Unterbringung menschenwürdig ist. Mindeststandards wie die Garantie der Privatsphäre, die Sicherstellung des Kindswohls durch kinderfreundliche Orte und Angebote oder Clearing und Schutz für besonders schutzbedürftige Personen müssen eingehalten werden.
Es muss ein unterkunftsspezifisches Schutzkonzept erarbeitet werden. Dabei müssen die aktuellen Ereignisse, wie Anschläge und Proteste, mit einbezogen werden. Wir erleben einen besorgniserregenden Anstieg von rassistischer Gewalt, Anschlägen und Angriffen. Das dürfen wir auf keinen Fall unterschätzen.
Die Sicherheit der Geflüchteten und ihre menschenwürdige Unterbringung muss bei den gemeinsamen Anstrengungen, die wir jetzt unternehmen, oberste Priorität haben!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wenn wir über eine sichere Unterbringung von Geflüchteten debattieren, dann müssen wir auch darüber reden, wie wir über Geflüchtete generell sprechen. Aktuell dominieren Schlagworte wie „irreguläre“ oder gar „illegale Migration“, „Grenzschließungen“, „Warnung vor Überlastung“, „die Zahlen galoppieren regelrecht“, „eine neues 2015“.
Die Aussagen des Innenministers, aber auch vieler anderer Politiker in diesen Zeiten machen mich wütend. Sie malen das Bild von einer Bedrohung. Einer Bedrohung durch Menschen, die vor Krieg und Lebensgefahr fliehen. Wie absurd ist das denn?
Das ist nicht nur ein völlig falsches Signal, es ist auch sachlich nicht richtig.
Es ist internationales und europäisches Recht, dass Schutzsuchende auf deutschem Boden Asyl beantragen können. Wir haben eine Schutzverpflichtung gegenüber diesen Menschen. Diese Schutzverpflichtung lösen wir nicht ein.
Ganz im Gegenteil: Mit dem Bild einer Bedrohung geben Sie dem Mob recht. Sie stehen auf der Seite derjenigen, die Hass und Hetze verbreiten. Und das führt dann leider bei manchen auch zu menschenfeindlichen Straftaten.
Mit dieser Wortwahl treiben Sie die Spaltung in unserer Gesellschaft weiter voran. Als ob Sie nichts aus der Vergangenheit gelernt hätten.
1992, Rostock Lichtenhagen war keine einmalige Entgleisung. Schon 2015 wurde in Einsiedel protestiert. Damals wurde die Zufahrt blockiert und es flogen Molotowcocktails über den Zaun. Auch auf dem Gelände des Spreehotels landeten schon 2016 Brandsätze.
Hören Sie endlich auf, Menschen, die vor Krieg und Lebensgefahr fliehen, als Bedrohung zu bezeichnen. Kommen sie Ihrer Schutzverpflichtung nach.
Das Problem sind nicht die geflüchteten Menschen. Das Problem ist maximal, dass nicht genug Wohnungen, nicht genug Geld da sind. Darüber müssen wir reden. Wir müssen darüber reden, wie wir gemeinsam und solidarisch in dieser Krise agieren.
Als im Februar die Menschen aus der Ukraine zu uns kamen hieß es: „Solidarität“, „Sachsen sagt Hilfe zu“, „Chemnitz kann Hunderte aufnehmen“, „Leipzig prüft Flüchtlingshilfe mit Bussen“.
Wir haben in den vergangenen Monaten mit Solidarität und gemeinsamer Anstrengung so viel erreicht. Dieser Geist sollte uns auch jetzt tragen!