Aktuelle Debatte Migration – Čagalj Sejdi: Wir brauchen ein Teilhabe- und Integrationsgesetz, das seinen Namen verdient

Redebeitrag der Abgeordneten Petra Čagalj Sejdi (BÜNDNISGRÜNE) zur Aktuellen Debatte der Fraktion AfD zum Thema: „Unser Land zuerst statt zuletzt!“
67. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 15.03.2023, TOP 3

– Es gilt das gesprochene Wort –

 

Sehr geehrter Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

in dieser Debatte von der AfD geht es wieder einmal gegen Migration und Flucht und gegen die Hilfe, die wir leisten. Die AfD malt ein weiteres Mal das Bild der „belastenden Migration“ und schürt die Angst, Sachsen könne nicht für alle Einwohner*innen unseres Freistaats gleich gerecht sorgen. Oder besser gesagt: Menschen, die bereits in der dritten Generation und länger hier leben, kämen zu kurz.

In diesem Zusammenhang offenbart der Titel dieser Debatte vieles: Egoismus. Ein Verständnis von einer Gesellschaft, die zuerst an sich denkt – ohne sich zu fragen, woher ihr Wohlstand eigentlich kommt. Und Kurzsichtigkeit.

Meine Meinung ist: Wenn unser Land an erster Stelle stehen sollte, dann vor allem dann, wenn es darum geht zu helfen, sachlich und lösungsorientiert die derzeitigen Probleme anzupacken und umzudenken und kreative Lösungen zu entwickeln.

Ja, es ist wichtig, dass es allen Menschen in Sachsen gut geht. Und ja, helfen ist nicht immer einfach und manchmal kommen wir auch an die Grenzen des bisher Bekannten und müssen neue Wege gehen. Menschen flüchten nicht zum Spaß, Flucht ist kein Urlaubstrip – Flucht belastet, traumatisiert und macht krank.

Ich habe während meiner Arbeit und meines Engagements viele flüchtende und geflüchtete Menschen kennengelernt. Ihre Geschichten waren immer unterschiedlich, aber fast immer schwer und mit leidvollen Erlebnissen. So etwas in der Debatte auszublenden und nur über unsere Sporthallen, unser Freizeitvergnügen und Bequemlichkeit nachzudenken, ist unmenschlich und egoistisch. Und es blendet vor allem aus, dass unser Wohlstand oftmals auf der Armut der Menschen in anderen Ländern aufbaut.

Wir haben eine völkerrechtliche Verpflichtung. Wir müssen Menschen, die Asyl suchen – für die Dauer ihres Verfahrens und wenn sie anerkannt sind – bei uns aufnehmen und menschenwürdig unterbringen. Ob Ihnen das gefällt oder nicht.

Viele Flüchtende kommen aktuell aus Herkunftsländern mit sicheren Bleibeperspektiven wie Syrien (16.000) und Afghanistan (11.000). Sie leben hier und werden hier bleiben.

Wenn wir wirklich wollen, dass wir in Sachsen gut und gerne leben, dann müssen wir den Menschen, die zu uns kommen, die Hand reichen und ihnen helfen, hier in unserer Gesellschaft Fuß zu fassen, ein Teil von ihr zu werden.

Und dafür braucht es vor allem eines: Ein Teilhabe- und Integrationsgesetz, das seinen Namen verdient! Ein Gesetz, das eine verlässliche gesetzliche Grundlage bildet, damit geschaffene Strukturen Bestand erhalten.

Denn wir brauchen: Sozialarbeit, Kita- und Schulplätze, Lehrer, Sprachkurse, Unterkünfte, am besten dezentral, psychosoziale Hilfe und Traumaarbeit, Freizeitangebote/Integrationsprojekte, Entlastung der Ausländerbehörden.

Aber das Problem ist ja nicht neu, das wird hier in der Debatte nur zu gern ausgeblendet.

Wohnungen für finanzschwache Menschen oder große Familien sind schon seit längerem knapp. Den Lehrermangel beklagen seit vielen Jahren? Behörden sind nicht erst seit heute unterbesetzt, ich kann hier noch vieles aufzählen.
Notwendiges wurden in den letzten Jahren verschleppt.

Das müssen wir jetzt ausbaden. Dafür braucht es Lösungen: Und diese Lösungen sind mit Geld verbunden.

Hier muss der Bund seine bisherigen Zusagen an die tatsächlichen Verhältnisse anpassen. Wir müssen anerkennen, dass es nicht die Flüchtenden sind, sondern die Versäumnisse der Vergangenheit, die uns zu den jetzigen Problemen geführt haben.

Neben Geld braucht es Kreativität und nachhaltiges Denken:

Warum machen wir für Familienangehörige anerkannter Schutzberechtigter keine Ausnahme von der Pflicht in Aufnahmeeinrichtungen zu leben? Warum bauen wir jetzt keine Unterkünfte, die wir auch später – so wie in Mittelachsen – als Sozialwohnungen nutzen können? Es geht darum, nachhaltig zu reagieren, denn Probleme und Krisen kommen immer wieder.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir brauchen Menschen in Sachsen!

Schauen Sie sich die demografische Entwicklung an: Es ist kein Geheimnis, dass Sachsens Bevölkerung altert. Es ist auch kein Geheimnis, dass zu wenig junge Menschen die vorhandenen Arbeitsplätze besetzen. Laut dem Fachkräftemonitoring der sächsischen Industrie- und Handelskammer gibt es rund 100.000 freie Stellen im Freistaat. 60 Prozent der befragten Unternehmen haben vakante Stellen. Ohne Arbeitskräfte werden viele Unternehmen sterben oder abwandern.

Die Folgen sind doch offensichtlich. Weniger Steuereinnahmen, weniger Menschen, die in die Sozialleistungssysteme einzahlen. Von welchen Steuergeldern sollen dann Daseinsvorsorge betrieben werden?

Wenn wir uns für „unser Land zuerst“ aussprechen, dann für ein modernes und zukunftsgewandtes Sachsen und keines aus der Vergangenheit.

Ihre polemischen Debatten, die die Realität ausblenden, führen zu nichts. Nur dazu, dass Ängste und Hass in der Bevölkerung geschürt werden. Wir müssen uns sachlich damit auseinandersetzen, wie wir mit der Situation umgehen, dass der Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr durch die sächsische Bevölkerung gedeckt werden kann. Gleichzeitig suchen sehr viele Menschen bei uns Schutz. Das ist ein Potenzial, das wir nicht ignorieren dürfen.

Lassen Sie uns daran arbeiten, dass die Menschen, die heute hierherkommen, morgen Arbeitskolleg*innen, Nachbar*innen und Freund*innen werden. Sie können ein Teil unserer Gesellschaft werden und damit genau wie alle Sächsinnen und Sachsen von den Investitionen, die wir heute tätigen, profitieren.

„Sachsen first“ bedeutet für mich, dass wir an erster Stelle stehen müssen, wenn es um Hilfe für Menschen in Not geht; dass wir wissen, dass Migration und leider auch Flucht zur modernen Zeit dazu gehören; dass es für uns an erster Stelle steht, dass sich Menschen in Sachsen wohl fühlen und gerne hier bleiben.