Aktuelle Debatte Gleichstellung – Hammecke: Wir wollen Sachsen zu einem attraktiven Lebens- und Arbeitsort für alle Menschen machen
Redebeitrag der Abgeordneten Lucie Hammecke (BÜNDNISGRÜNE) zur Aktuellen Debatte der Fraktion BÜNDNISGRÜNE zum Thema: „Frauen gestalten Sachsen – Gleichstellung im Freistaat voranbringen“
68. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Donnerstag, 16.03.2023, TOP 1
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Abgeordnete,
Frauen gestalten Sachsen schon jetzt. Sie sind Gründerinnen, sie sind Handwerkerinnen und Erzieherinnern. Landtagsabgeordnete oder Ministerinnen. Sie engagieren sich vielfältig und sie mischen sich ein – für die Zukunft des Freistaates und aller Menschen, die in ihm leben.
Aber: Frauen fehlen, rein zahlenmäßig. Sachsen hat, wie viele ostdeutsche Bundesländer, einen Männerüberschuss bzw. einen Mangel an Frauen. Deshalb ist die Frage von Gleichstellung, der Förderung von Frauen und Vielfalt auch eine entscheidende Frage für die Zukunft des Freistaates. Kurz gesagt: knallharte Politik für den Standort Sachsen.
Ich habe es an anderer Stelle hier im Plenum bereits einmal gesagt: Demografische Homogenität, wie sie gerade in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands vorkommt, Abwanderung, viele Ältere, mehr Männer – all das wirkt sich negativ auf das soziale Geflecht vor Ort aus, löst Gefühle vom Abgehängtsein aus.
Das hat Konsequenzen. Fremdenfeindliche oder demokratieskeptische Einstellungen steigen.
Das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa beschrieb es folgendermaßen: „Bei über 20 Prozent Männerüberschuss verändern sich Werte, Normen und Leitbilder; greift eine ungesunde Lebensführung um sich, kommt es zur Radikalisierung im Sozialverhalten und zur politischen Polarisierung bis hin zur Entwicklung von Gruppen mit extremistischen Orientierungen.“
Sozialökonomische Effekte des demographischen Wandels in ländlichen Räumen Sachsen-Anhalts Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa, Halle
Und: „Weltweit gibt es kaum Regionen, in denen diese ungünstigen demografischen Entwicklungen so deutlich ausgeprägt sind, wie in den ostdeutschen Bundesländern.“
Wir haben hier ein echtes Problem! Wir müssen es schaffen, dass Frauen in Sachsen bleiben und dass sie herziehen, dass sie (wieder)kommen.
Und das funktioniert nur, wenn wir Gleichstellung als das verstehen, was es ist: ein Querschnittsthema für alle Ressorts. Wenn wir verstehen, dass gut ausgebildete junge Frauen nur zurück nach Sachsen kommen, wenn wir auch unsere Wirtschafts- und Industriepolitik, den Strukturwandel auf ihre Bedürfnisse ausrichten.
Wenn wir alle gemeinsam zum 08. März laut für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen – aber an den restlichen 364 Tagen im Jahr mindestens genauso vehement dafür streiten!
Wie das funktionieren kann? Mit einer umfassenden Gleichstellungsstrategie für Sachsen, die den Freistaat in all seinen Ressorts ebenso umfasst, wie die Kommunen.
Denn es ist eine grundlegende Frage von Gerechtigkeit, ob wir die tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter fördern. Aber es ist eben auch für uns alle gut – für die Zukunft des Freistaates entscheidend.
Aber wie machen wir das Ganze jetzt? Nun zuallererst, indem wir die stärken, die sich Tag für Tag für eben jenen Verfassungsauftrag stark machen. Jeden Tag arbeiten Menschen in Sachsen daran, dieses Land ein Stückchen gerechter zu machen – vom Vogtland bis nach Görlitz setzen sich ein für gleichberechtigte politische Teilhabe, verbesserte wirtschaftliche Teilhabe, Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, einen geschlechtergerechten Strukturwandel oder die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Sie tun dies im Hauptamt oder Ehrenamt – und verdienen dafür unsere Wertschätzung. Und diese Wertschätzung geht eben auch ganz praktisch mit Geld einher – und zwar mit Geld, mit dem Menschen rechnen können.
Die Mittel für diesen Bereich sind in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Jetzt müssen wir es schaffen, uns ernsthaft über die Frage zu unterhalten, wie wir die langfristige Förderung mit angemessener Bezahlung sicherstellen. Weil es fair ist. Aber auch weil uns ansonsten die Fachkräfte entschwinden. Im vergangenen Doppelhaushalt haben wir mit der LAG Gewaltfreies Zuhause einen Anfang gewagt. Ich würde mich freuen, wenn wir die Diskussion so weiter führen, dass wir zum nächsten Doppelhaushalt noch einmal weiter sind.
Und ich möchte die erste Runde mit einer Bitte enden. Einer Bitte, an all die Abgeordneten hier im Raum, die nicht explizit für Gleichstellungspolitik zuständig sind, die Scheuklappen abzulegen und sich zu überlegen, wie sich die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit auch in ihrem Themenfeld – sei es Strukturwandel, Verkehrspolitik oder Justizvollzug – stellt und wie man diese beantworten könnte. Ich vermute, dass es einige überraschen wird. Ich bin mir sehr sicher, dass es für alle gewinnbringend sein wird.
Denn – und dieses Wahlplakat von uns BÜNDNISGRÜNEN überzeugt mich auch im Jahr 2023 noch: Wer Sachsen sagt (und das machen wir alle wirklich häufig), der sollte auch Sächsinnen sagen.
Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Abgeordnete,
die zweite Runde möchte ich gerne damit beginnen, eine Beobachtung zu teilen. Am 4. März saß ich auf einem dieser Stühle, auf der jetzt die CDU Fraktion sitzt und schaute mich um. Und abgesehen davon, dass es eine überraschende Perspektive auf den Plenarsaal war, waren es vor allem überraschend viele Frauen – all diese Frauen waren der Einladung Katja Meiers zur jährlichen Frauentagsveranstaltung gefolgt. All diese Frauen waren gekommen, um über das Thema „Frauen in die Politik“ zu sprechen. Und dass es notwendig ist, über dieses Thema zu sprechen, das wird eindeutig, wenn sie sich heute im Plenarsaal umgucken: Der Sächsische Landtag ist tatsächlich eines der bundesdeutschen Schlusslichter, mit einem Frauenanteil von unter 30 Prozent. Schauen Sie sich in einem beliebigen kommunalen Rat ihrer Wahl um, auch dort sind wir weit entfernt von der Hälfte der Macht.
Ich war nach der Veranstaltung im Gespräch mit vielen Frauen, jung und alt. Über Hürden. Über Sichtbarkeit und Vorbilder. Mit Helena, die überlegt, mit 18 Jahren für den Gemeinderat in ihrer Kommune zu kandidieren, ebenso wie mit einer älteren Dame, die gerade ihr Herz für die Dresdner Stadtbezirksbeiräte entdeckt. Und es gab selten einen Termin, von dem ich motivierter nach Hause gegangen bin.
Solche Veranstaltungen sind wichtig: Sie schaffen Sichtbarkeit, sie schaffen Vorbilder. Wir müssen aber auch konkret Hürden abbauen, müssen uns konkret die Bedingungen anschauen, unter denen Ratsarbeit stattfindet, und meiner persönlichen Auffassung nach auch über gesetzliche Grundlagen sprechen. Mit der partei- und professionsübergreifenden Fachkommission zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen an Wahlämtern hat das SMJusDEG hier konkrete Maßnahmen entwickelt. In wenigen Wochen tagen wir auch wieder zusammen, um den Umsetzungsstand zu besprechen – und ich danke schon heute allen, die sich der Umsetzung widmen!
Und ich möchte auch hier wiederholen: Die Frage der gleichberechtigten Teilhabe, die Frage nach der Hälfte der Macht – die ist natürlich eine Frage von Gerechtigkeit. Aber die ist eben auch ein Gewinn für uns alle.
Werte Abgeordnete,
aufgrund der gestern Abend auch sehr ernsthaft geführten Debatte zur Lohnlücke der Geschlechter in Sachsen möchte ich hier nur einmal noch einen Satz wiederholen aus dem Antrag, der sich in mein Gedächtnis gebrannt hat:
„Sachsen kann sich den Luxus nicht leisten, auf das weibliche Fachkräftepotenzial zu verzichten.“ Arbeiten wir gemeinsam daran, die Lohnlücke zu schließen und Sachsen zu einem attraktiven Lebens- und Arbeitsort für alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht zu machen.
Sehr geehrte Abgeordnete,
ich kann und will nicht über das Thema Gleichstellung sprechen, ohne auch über das Thema Gewalt an Frauen zu reden. Denn diese ist Realität, auch in Sachsen, vom Vogtland bis nach Görlitz.
Mehr als 9.000 Fälle häuslicher Gewalt wurden im vergangenen Jahr in Sachsen angezeigt – und hier bewegen wir uns nur im Hellfeld. Die Dunkelfeldstudie zu häuslicher Gewalt, Stalking und sexualisierter Gewalt in Sachsen wurde vergangenen Oktober abgeschlossen. Die Auswertung der Ergebnisse werden sicherlich für unsere inhaltliche Arbeit in diesem Bereich sinnvoll sein.
In der Finanzierung der Gewaltschutzinfrastuktur sind wir in den vergangenen Haushaltsjahren wirklich große, strukturell entscheidende Schritte gegangen. Im aktuellen Doppelhaushalt konnten wir 25 Millionen Euro zur Verfügung stellen und sprechen da von mehr als einer Verdopplung der Mittel im Vergleich zu den Jahren davor. All dies ist auch in einem großen Konsens innerhalb des Hohen Hauses geschehen. Denn hier ist jeder Euro genau richtig, weil Gewaltschutz kein Luxus ist, kein nice-to-have, sondern gesetzliche Verpflichtung und ein Menschenrecht aller Frauen.
Wir konnten die Anzahl der Schutzplätze deutlich ausweiten, sind jedoch beim von der Istanbul Konvention geforderten Standard weiterhin noch nicht angekommen. Wir haben mittlerweile in jedem Landkreis zumindest Schutzplätze – und sind auf einem sehr guten Weg, die Forderung aus dem Koalitionsvertrag zu erfüllen, in jedem Landkreis Interventions- und Koordinierungsstellen aufzubauen. Zuletzt war es im Erzgebirgskreis so weit.
Der Landesaktionsplan zur Bekämpfung Häuslicher Gewalt wird momentan überarbeitet – der Beteiligungsprozess läuft. Ziel muss sein, dass die Istanbul Konvention in Sachsen und in der Bundesrepublik endlich vollumfänglich umgesetzt wird. Dazu ist die Bundesregierung bereits wichtige Schritte gegangen mit der Rücknahme des Vorbehalts zu zwei Artikeln der Konvention. Jetzt geht es darum, dass der Bund konkrete Vorschläge angeht, wie er sich rechtssicher an der Finanzierung beteiligen kann.
Werte Abgeordnete,
Lassen Sie uns gemeinsam die Frage nach Gleichstellung der Geschlechter, die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit als das verstehen, was sie ist: eine zentrale Frage für die Zukunft des Freistaats Sachsen. Und lassen Sie uns auch gerne streiten, wie man diese gestalten kann.
Herzlichen Dank!