Aktuelle Debatte Gewaltschutz – Meier: Der Rechtsanspruch auf Schutz ist kein nice-to-have, sondern eine fundamentale Frage der Menschenrechte
Redebeitrag der Abgeordneten Katja Meier (BÜNDNISGRÜNE) zur Zweiten Aktuellen Debatte der Fraktion BÜNDNISGRÜNE: „Erneuter Höchststand bei Gewalt gegen Frauen – Rechtsanspruch auf Schutz jetzt, Landesfinanzierung sichern“
5. Sitzung des 8. Sächsischen Landtags, Donnerstag, 19.12.2024, TOP 2
– Es gilt das gesprochene Wort –
Runde 1
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
es ist die letzte Sitzung dieses hohen Hauses in diesem Jahr. In weniger als einer Woche ist Weihnachten und der Jahreswechsel ist auch schon in Sicht. Viele freuen sich auf das Zusammentreffen mit ihren Familien und Freunden, auf schöne gemeinsame Stunden und Tage, auf Besinnlichkeit und auch ein bisschen Ruhe.
Doch nicht allen ist dies vergönnt, insbesondere für Frauen aus konfliktreichen Familien ist Weihnachtszeit geprägt von Angst. Denn, während der Feiertage befinden sie sich auf engem Raum mit Menschen, denen sie eigentlich versuchen aus dem Weg zu gehen. Stress und Anspannung steigen, ebenso der Alkoholpegel. Eine gefährliche Melange, die schwerwiegenden Folgen haben können.
Alle Jahre wieder ist die Weihnachtszeit eine Hochzeit für häusliche Gewalt, sexuelle und gewalttätige Übergriffe. Belegt ist dies auch im bundesdeutschen Lagebild der geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichteten Straftaten, das im November zum ersten Mal vorgestellt wurde. Demnach ist die polizeilich registrierte häusliche Gewalt in den letzten fünf Jahren um fast 20 Prozent angestiegen. Allein im Jahr 2023 sind 360 Mädchen und Frauen Tötungsdelikten zum Opfer gefallen.
Das heißt: Fast jeden Tag wurde eine Frau getötet.
Ähnlich erschütternde Zahlen liefert die aktuelle polizeiliche Kriminalstatistik im Freistaat Sachsen.
Im Jahr 2023 haben sich im Freistaat fast 10.000 Fälle der häuslichen Gewalt ereignet, ein beträchtlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Zwei Drittel davon waren Körperverletzungsdelikte.
Sechzehn Frauen haben diese Angriffe mit ihrem Leben bezahlt.
Täglich erleben Frauen Gewalt in ihren eigenen vier Wänden, in ihren Beziehungen, auf der Straße – an Orten, die sie eigentlich als sicher erachten sollten. Diese Gewalt ist nicht nur ein Verbrechen, jede einzelne dieser Zahlen ist mehr als eine Statistik – sie ist ein persönliches Schicksal. Sie zerstört Leben, sie hinterlässt Spuren, die oft ein Leben lang bleiben.
All das macht den Kampf gegen die Gewalt in meinen Augen zu einer gesamtgesellschaftlichen, überparteilichen Aufgabe. Zu einer Aufgabe, der sich die neue sächsische Staatsregierung weiter stellen muss.
In den vergangenen fünf Jahren hat die Kenia Koalition:
- die Verpflichtungen zur Umsetzung der Istanbul-Konvention anerkannt,
- eine Landesstrategie entwickelt,
- den Landesaktionsplan, mit rund 200 Maßnahmen beschlossen, der Frauen und Mädchen künftig besser vor Gewalt schützen wird,
- das Hilfs- und Schutznetzwerk wurde ausgebaut, und mehr Mittel als je zuvor für den Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt bereitgestellt,
- neue Fachberatungsstellen wurden geschaffen, und
- es gibt eine landesweite Fach- und Koordinierungsstelle.
Dieser Aufwuchs war und ist so bitter nötig. Denn wir sprechen hier nicht von Einzelfällen, sondern von verfestigten, langfristigen, strukturellen Problemen. Diese Gewalt hat System. Sie steht in größeren Zusammenhängen. Sie tritt konstant auf. Umso mehr brauchen wir auch konstante, zuverlässige Hilfsstrukturen.
Wir und Sie als neue Staatsregierung sind es den Frauen und Mädchen schuldig, hier weiter nachdrücklich zu handeln und ein Signal der Solidarität zu setzen – ein Signal des Schutzes, ein Signal, dass wir als Gesellschaft nicht bereit sind, Gewalt gegen Frauen hinzunehmen. Denn sie sind nicht nur Opfer, sondern auch Überlebende, die auf unsere Unterstützung angewiesen sind.
Werte Abgeordnete,
folgt man den Empfehlungen der Istanbul-Konvention, dann brauchen wir in Sachsen über 400 Familienplätze. Wir hatten in den vergangenen fünf Jahre einen enormen Aufwuchs und dennoch brauchen wir noch 200 weitere Familienplätze. Und das bedeutet – ich weiß es aus der Erfahrung der letzten Jahre – neue Verhandlungsrunden, es bedeutet neue Diskussionen um Fördermittel, und ja auch endlich über einen Rechtsanspruch.
Ein Rechtsanspruch auf Schutz, den es dringend braucht, wäre der erste Schritt in eine Gesellschaft, die Frauen respektiert, schützt und unterstützt. Es ist nicht nur eine politische Forderung, sondern ein moralischer Imperativ, den wir endlich erfüllen müssen.
Gewaltschutz ist kein nice-to-have – in einer Demokratie ist er eine Schlüsselaufgabe!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
—
Runde 2
Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Abgeordnete,
erst vergangene Woche durfte ich an einer Eröffnungsfeier der Fach- und Koordinierungsstelle der LAG sexualisierte Gewalt – Prävention und Intervention in Sachsen e.V. teilnehmen. Dort waren so viele engagierten Menschen, die das Rückgrat unseres Hilfe- und Beratungssystems für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen sind.
Und alle, die dort gesprochen haben und mit denen ich ins Gespräch gekommen bin, haben eindrücklich einen Rechtsanspruch auf Schutz vor häuslicher und sexualisierter gefordert! Denn Frauen, die von Gewalt betroffen sind, haben das Recht, ohne weitere Hürden Schutz und Unterstützung zu erhalten.
Mit dem Gewaltschutzgesetz gäbe es genau diesen Rechtsanspruch, der Frauen eine schnelle und unbürokratische Hilfe zusichert – egal, wo sie leben, egal, in welchem sozialen Umfeld sie sich befinden.
Dieser Anspruch darf nicht vom Geldbeutel oder von bürokratischen Prozessen abhängen!
Es ist an der Zeit, den Weg zu einem flächendeckenden und verlässlichen Schutznetz für alle Frauen in Deutschland zu ebnen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
der Rechtsanspruch auf Schutz ist kein Luxus, kein Nice-to-have, sondern eine fundamentale Frage der Menschenrechte.
In Sachsen, wie auch in vielen anderen Teilen Deutschlands, müssen Frauen in akuten Gewaltsituationen das Gefühl haben, dass der Staat hinter ihnen steht, dass die Polizei ihnen zur Seite steht und dass sie Schutz bekommen, der schnell, nachhaltig und vor allem verlässlich ist.
Es geht um einen Rechtsanspruch – das mag für manche abstrakt und technisch klingen, es geht um nicht weniger als die Rettung von Leben, es geht um die Menschenwürde jeder Frau.
Die noch im Amt befindliche Bundesregierung hat das Gewalthilfegesetz im Kabinett beschlossen.
Morgen stimmt der Bundesrat darüber ab. Die sächsische Staatsregierung wird diesem Gesetz morgen zustimmen – so zumindest der Stand zum gestrigen Tag. Ich hoffe inständig, dass es bei diesem Abstimmungsverhalten auch bleibt.
Uns ist allen bewusst, dass das Gesetz nicht ganz perfekt ist, aber ein ganz entscheidender Schritt nach vorn für den Ausbau des Gewaltschutzes. Eine weitere Verzögerung können wir uns vor dem Hintergrund der ständig steigenden Zahlen nicht leisten.
Ein solches Gesetz kann die vorhandenen Lücken schließen und die nötigen Schutz- und Beratungsangebote sichern. Ein solches Gesetz kann den Betroffenen genauso helfen wie ihren Familien und dem Umfeld. Ein solches Gesetz kann Leben retten.
Und lassen Sie mich eines sehr klar formulieren: Im Bundestag darf es aus partei- oder wahlkampftaktischen Erwägungen keine Blockaden geben. Jede Verzögerung bedeutet, dass eine Frau möglicherweise in ihrer Gewaltsituation bleibt, dass sie erneut Opfer wird, weil sie nicht schnell genug Schutz erhält.
Dieses Thema eignet sich nicht für Ränkespiele, sondern sollte eine fraktionsübergreifende Unterstützung erfahren. Wenn der Rechtsanspruch auf Bundesebene kommt, bedeutet das:
- Der Freistaat wird auch ein eigenes Landesausführungsgesetz brauchen.
- Der Bund wird die Strukturen in den Ländern mitfinanzieren müssen. Die Erstfinanzierung wird den Ländern dabei sehr helfen, das Gewalthilfesystem auszubauen.
- Es muss uns aber klar sein, dass Sachsen auch weiterhin Kosten tragen muss und auch über die jährlich aktuell gut 12 Millionen Euro einen weiteren Aufwuchs braucht.
Deshalb braucht es auch weiterhin eine umfassende, langfristige und gut finanzierte Strategie, die in allen Bereichen – von der Prävention bis zur Unterstützung von Schutzeinrichtungen – ansetzt. Hier müssen wir als Land unsere Verantwortung ernst nehmen und mehr, vor allem langfristige Mittel bereitstellen, um eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen.
Sehr geehrte Abgeordnete,
lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass der Rechtsanspruch auf Schutz nicht nur ein schönes, aber leeres Versprechen bleibt, sondern Realität wird.
Wir sind es den Frauen schuldig.