Datum: 01. Oktober 2024

Geschäftsordnung 8. Sächsischer Landtag – Lippmann: Verständigung zwischen den Fraktionen sollte Teil einer neuen parlamentarischen Kultur in diesem hohen Hause werden

Redebeitrag des Abgeordneten Valentin Lippmann (BÜNDNISGRÜNE) zur Aussprache und Beschlussfassung zur Geschäftsordnung des 8. Sächsischen Landtags

1. Sitzung des 8. Sächsischen Landtags, Dienstag, 01.10.2024, TOP 2

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

in der heutigen konstituierenden Sitzung des Sächsischen Landtages geben wir uns als Abgeordnete mit der neuen Geschäftsordnung die Regeln des gemeinsamen Zusammenarbeitens. Dieser Moment hat regelmäßig etwas fast schon Sakrales in sich. Denn während die alte Geschäftsordnung der Diskontinuität unterfällt, muss das binnen weniger Wochen auszuhandelnde Neue ganz grundlegende Regeln für die nächsten fünf Jahre aufstellen. Geschäftsordnungsdebatten sind damit auch stets Ausdruck einer Selbstbesinnung und Selbstbestimmung des Parlamentes.

Selten wird wahrscheinlich der Geist des Parlamentes als ein selbstbewusster und starker, die Staatsregierung gelegentlich in die Schranken weisender Ort der zentralen Debatten des Landes beschworen, als in parlamentarischen Festakten oder bei Geschäftsordnungsdebatten.

In der legislativen Praxis stellt sich die Sache naturgemäß dann etwas anders dar – vom Geist des Anfangs bleibt nicht selten nur noch die Geistlosigkeit der Realität übrig.

Das lag in der Vergangenheit auch daran, dass die Geschäftsordnung in der Regel nicht in einem breiten überfraktionellen Konsens verabschiedet wurde, sondern am Ende eine bloße Mehrheitsentscheidung künftiger Koalitionen war.

Zumindest dies gestaltet sich bei der heute zu verabschiedenden Geschäftsordnung in erheblichen Teilen anders. Gezwungen durch den Umstand, dass sich mögliche Koalitionspartner bestenfalls noch in Kennlerngesprächen arktischen Klimas befinden, hat sich erstmals das Ziel Bahn gebrochen, die Geschäftsordnung in einem möglichst breiten parlamentarisch-demokratischen Konsens zu verabschieden.

Hierzu haben wir in den vergangenen Wochen vertrauensvolle Gespräche geführt und über das Für und Wider einzelner Regelungen debattiert. Es ist ein guter parlamentarischer Stil, hierbei alle Fraktionen unabhängig von Fragen der Zusammensetzung einer zukünftigen Regierung mit einzubeziehen. Und ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich dafür bedanken und meine Hoffnung als leidenschaftlicher Parlamentarier ausdrücken, dass dies auch Teil einer neuen parlamentarischen Kultur in diesem hohen Hause wird und nicht nur ein Strohfeuer in Anbetracht arktischer Ausweglosigkeit.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
im Kern sind wir BÜNDNISGRÜNE mit dem Ergebnis der interfraktionellen Beratungen weitgehend zufrieden.

In der neuen Legislatur darf sich die interessierte Öffentlichkeit über einige Neuerungen kleineren und größeren Ausmaßes im parlamentarischen Betrieb freuen.
Neben der Zwischenfrage wird zukünftig auch die Zwischenbemerkung als Instrument einer lebhaften Debatte zulässig sein. Die sich hierdurch eröffnende Möglichkeit des kurzen und schnellen Schlagabtauschs kann einen kleinen, aber wichtigen Beitrag zur Belebung der Parlaments- und Debattenkultur leisten. Ferner stellt sich durch die Änderung in Zukunft nicht mehr die für die Sitzungsleitung schwer zu treffende künstliche Abgrenzung von Frage und Bemerkung. Wir wissen ja nicht nur aus Untersuchungsausschüssen, wie schwer es einigen Kollegen im Rund fällt, einfachste Fragen zu stellen.

Begrüßenswert ist auch, dass die Befragung der Staatsregierung inhaltlich modifiziert wird. Das Instrument wurde in der vorvergangen Legislatur neu eingefügt und in der vergangenen nachgeschärft.

Man muss aber konstatieren, dass bei einem Instrument wohl selten Anspruch und Wirklichkeit soweit auseinandergingen, wie bei der aktuellen Form der Befragung. Statt „prime-minister-hour“ war für viele Kolleginnen und Kollegen der Aufruf des Tagesordnungspunktes der Anlass, das Speisenangebot in der Kantine zu sondieren.

Wir straffen daher die Befragung deutlich und vereinfachen durch die Blockbefragung zukünftig, mit Nachfragen einem Mitglied der Staatsregierung auch tatsächlich auf den Zahn zu fühlen.

Dennoch muss man hier auch die Erwartungshaltungen runterschrauben: Dresden ist nicht Westminster und Jörg Urban von den Qualitäten eines britischen Oppositionsführers Lichtjahre entfernt.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
erfreulich ist auch, dass Ausschüsse in Zukunft eine informatorische Anhörung von Sachverständigen durchführen können, ohne bereits einen konkreten Gesetzentwurf vorlegen zu müssen.

Mit der neuen Geschäftsordnung implementieren wir auch die Möglichkeit, Ausschusssitzungen in außergewöhnlichen Notsituationen digital abzuhalten. Hierdurch stärken wir die Stabilität des Parlaments in Krisenzeiten.

In Zeiten komplizierter Mehrheitsfindung wird das Parlament auch dadurch resilienter, dass an einigen von der Verfassung nicht als zwingend vorausgesetzten Stellen das Erfordernis der Zwei-Drittel-Mehrheit abgesenkt wird.

Das ist nicht nur eine politische Frage, sondern dient auch der Auflösung bestehender Widersprüche. So erscheint es nicht konsistent, die Abwahl eines Ausschussvorsitzenden denselben Anforderungen zu unterwerfen wie die Änderung der Verfassung.

Eine weitere Konsequenz der komplizierten Mehrheitsfindung ist die erstmalige Implementierung eines Hauptausschusses bis zur Bildung von Fachausschüssen, mit dem die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes einstweilen gesichert wird.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
andere Anpassungen der Geschäftsordnung stoßen weniger auf unser Wohlwollen, sind aber am Ende Teil eines akzeptablen Kompromisses.

Die moderat verlängerte Frist für die Stellungnahme der Staatsregierung und bei Großen Anfragen ist aus BÜNDNISGRÜNER Perspektive kritisch zu sehen. Gleichzeitig haben auch wir Verständnis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien, die durch teilweise absurde und eher auf Destruktion denn auf Sachaufklärung ausgelegte Fragenkataloge einzelner Fraktionen in der Vergangenheit an ihre Belastungsgrenzen gekommen sind und halten das im Sinne eines gemeinsamen Regelwerks für noch tolerierbar.

Für uns schlichtweg unverständlich bleibt jedoch, warum man den Saurier des Zählverfahrens nach d’Hondt unbedingt noch in die nächste Legislatur retten möchte. D’Hondt führt zu einer Verzerrung des Parlaments und begünstigt große Fraktionen grundlos. Für mich ist es nur mit Berechnungskalkül erklärbar, warum man das eigentlich schon längst historisch geglaubtes Zählverfahren in der Geschäftsordnung beibehält und sich damit zeitgleich in Widerspruch zu den wahlrechtlichen Regelungen setzt. Hier würde eigentlich die staatsrechtliche Logik eine Angleichung zwingend erfordern.

Aus diesen Gründen bringen wir einen Änderungsantrag ein, der eine Anpassung des Zählverfahrens vorsieht – denn irgendwann stirbt auch dieser totgerittene Saurier aus.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
bei allem Lob des Verfahrens und zumindest erheblicher Teile der inhaltlichen Einigung kann ich an dieser Stelle über den maßgeblichen Makel dieses Werkes nicht hinwegsehen. Wir BÜNDNISGRÜNE sehen die Schaffung eines weiteren Vizepräsidenten durchaus kritisch, da wir die parlamentsorganisatorische Notwendigkeit schlicht nicht sehen.

In der Öffentlichkeit wurde uns vielmehr ein parlamentssymbolisches Argument zu Gehör gebracht, das auf eine möglichst breite Vielfalt in der Präsidentenriege abzielt. Das lässt sich aus meiner Sicht durchaus hören. Allerdings hätte es dafür auch anderes Wege als die Ausweitung der Zahl der Vizepräsidenten gegeben.

Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn die Abgeordneten in freier und vorschlagsungebundener Wahl sich für drei Vizepräsidenten entscheiden müssten, dies genauso die Vielfalt widergespiegelt hätte, die nun durch einen vierten Vizepräsidenten erzeugt werden soll.

Aber das hätte den Mut bedeutet, das viel beschworene Selbstbewusstsein des Parlamentes wirklich ernst zu meinen. Sie haben an dieser Stelle der bloßen Koalitionsaritmethik den Vorzug gegenüber einem selbstbewussten Parlament gegeben. Das halten wir für den falschen Weg in diesen Zeiten!

Da Sie die Vizepräsidenten auch nie mit den anderen Fraktionen in der interfraktionellen Runde verhandeln wollten, sondern Ihre Brombeer-Einigung kurz vor Toresschluss über die Zeitung verkündeten, kann von uns auch niemand verlangen, dies zu goutieren.

Wir stehen zu dem, was wir gemeinsam interfraktionell verhandelt haben, können aber ihre darüberhinausgehende politische Befrachtung der Geschäftsordnung nicht tragen, so dass am Ende eine wohlwollende Enthaltung zur Geschäftsordnung stehen wird.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
in diesen Tagen kann keine Debatte zur neuen Geschäftsordnung stattfinden, ohne den neuen Tiefpunkt des deutschen Parlamentarismus in unserem Nachbarbundesland in den Blick zu nehmen.

In Thüringen hat sich gezeigt was passiert, wenn die AfD in einem Bundesland Macht erhält. Und sei es auch nur die beschränkte Macht eines Alterspräsidenten. Der 26. September 2024 war ein versuchter Putsch gegen ein Parlament.

Auch wenn er schlussendlich vom Verfassungsgerichtshof unterbunden wurde, ist an dieser Stelle das Kalkül des Strategen aus Schnellroda schon längst aufgegangen. Das Parlament hat man vorgeführt und das Vertrauen in die erste Gewalt wurde bewusst beschädigt.

Der Parlamentarischen Geschäftsführer der Thüringer CDU-Fraktion Andreas Bühl hat in der Sitzung vergangene Woche Donnerstag in einem Moment der Entrüstung die Situation meines Erachtens treffend zusammengefasst: „Was sie hier betreiben, ist Machtergreifung“.

Machtergreifung geht nicht immer mit bewaffneten Schlägertruppen, sondern fängt mitunter bei den scheinbar profanen Einzelheiten der Geschäftsordnung an.

Aus diesem Grund bringen wir heute einen weiteren separaten Änderungsantrag ein, um Klarheit zu schaffen und Zustände wie in Thüringen von vornherein für die Zukunft auszuschließen.

Durch die Änderung in Paragraph 2 soll klargestellt werden, dass der Landtag bereits zu Beginn der konstituierenden Sitzung seine vollen Verfahrensrechte ausüben kann.

Dieser Änderungsantrag ist keinesfalls Ausdruck eines Misstrauens gegenüber der kompetenten Amtsführung des Alterspräsidenten Rost. Ich zweifle hier keine Sekunde an einem rechtmäßigen Vorgehen und bedanke mich für die bisherige Leitung der Sitzung.

Vielmehr ist er Ausdruck dessen, dass die Geschäftsordnung regelmäßig Präjudiz für die nächste Legislaturperiode darstellt und wir zum jetzigen Zeitpunkt schon für alle Eventualitäten bei der Zusammenfügung des Landtags in der 9. Wahlperiode vorbereitet sein müssen. Denn davor, dass die AfD hier heute dasselbe Theater aufführen kann, bewahrt uns diesmal nur der Zufall der Altersverteilung unter den Fraktionen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
wenn man nicht will, dass der Zufall uns in Chaos stürzt, gilt es dem mit klarem Recht und klaren Regeln zu begegnen und jede Stellschraube zu nutzen, um das Parlament zu stärken und zu schützen.

Vielen Dank.