Begabungs- und Begabtenförderung – Melcher: Wir wollen nicht Eliten fördern, sondern Talente
Redebeitrag der Abgeordneten Christin Melcher (BÜNDNISGRÜNE) zum Antrag der Fraktionen CDU, BÜNDNISGRÜNE und SPD: „Begabungs- und Begabtenförderung im Freistaat Sachsen“ (Drs 7/13692)
73. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 05.07.2023, TOP 9
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
häufig ist im Kontext Schule zu hören: Die Leistungsspanne innerhalb einer Klasse nimmt zu.
Es wird immer herausfordernder, allen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden.
Wir haben uns als Koalition das Ziel gesetzt, kein Kind zurückzulassen und allen Schülerinnen und Schülern beste Bildungserfolge zu ermöglichen. Wir wollen eine gezielte, individuelle Förderung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
mitunter wird dabei übersehen, dass individuelle Förderung nicht nur Defizite adressieren sollte, sondern ebenso die besonderen Potenziale und Talente junger Menschen.
Es gibt nicht wenige Kinder und Jugendliche, die in einem oder in mehreren Bereichen eine besondere Begabung zeigen: im mathematisch-naturwissenschaftlichen, im musischen, sportlichen oder sprachlichen Bereich.
Diese Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, zu fördern und fordern, leistet einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Begabungs- und Begabtenförderung hat im Freistaat Sachsen eine lange Tradition. Das ist bundesweit keine Selbstverständlichkeit. Als vor 22 Jahren das Sächsische Landesgymnasium Sankt Afra gegründet wurde, war eine Schule für Hochbegabtenförderung in Deutschland etwas Besonderes – und das ist sie bis heute.
Im Zuge des sächsischen Vorsitzes in der Kultusministerkonferenz hat die damalige Ministerin Kurth 2015 das Thema Begabungs- und Begabtenförderung gesetzt.
Der Grundsatzposition der KMK zur begabungsgerechten Förderung von 2009 folgte 2016 die „Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“. 2018 wurde die gemeinsame Initiative von Bund und Ländern zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler gestartet, besser bekannt als „Leistung macht Schule“.
Ich möchte drei Aspekte beleuchten, die uns BÜNDNISGRÜNEN wichtig sind:
Erstens: Begabungs- und Begabtenförderung ist nicht allein Thema für Sankt Afra und die Gymnasien mit vertiefter Ausbildung. Am Bund-Länder-Programm „Leistung macht Schule“ ist Sachsen mit 10 Gymnasien beteiligt.
Ich möchte einräumen, dass wir diese Auswahl zunächst kritisch gesehen haben, zumal es in der Programmbeschreibung heißt: „Für die Anzahl der teilnehmenden Schulen wird eine Obergrenze von 300 Schulen für 16 Länder festgelegt, die nach Möglichkeit je zur Hälfte aus dem Primar- und dem Sekundarbereich kommen.“
Dafür, und das begrüße ich ausdrücklich, hat Sachsen seit 2020 das System der Begabungs- und Begabtenförderung auch auf den Elementar- und Primarbereich erweitert.
In Zusammenarbeit mit der Karg-Stiftung entstehen Konsultationseinrichtungen im Kita- und Grundschulbereich, die anschließend in das Kompetenz-Netzwerk der Gymnasien eingebunden werden.
Es ist gut und wichtig, Begabungen früh zu erkennen. Und es ist verkürzt, Schülerinnen und Schüler mit besonderen Begabungen nur an Gymnasien zu vermuten. Wir müssen auch die Kitas sowie die Grund- und Oberschulen in den Blick nehmen.
Zweitens: Begabung ist ein Potenzial, das sich entfalten kann, wenn der Rahmen stimmt.
Begabung zeigt sich nicht erst oder gar ausschließlich in guten Noten. Begabungen müssen erkannt werden.
In der KMK-Förderstrategie heißt es: „Häufig sind es die Eltern, die die besonderen Fähigkeiten ihrer Kinder entdecken. Die besondere Verantwortung der Lehrkräfte und ihrer Kooperationspartner zeigt sich in jenen Fällen, wo die Eltern die Potenziale ihres Kindes nicht erkennen.“ Wir müssen die Diagnostikkompetenz der Pädagoginnen und Pädagogen stärken.
Dazu gehört aus meiner Sicht ein kritischer, auch ein selbstkritischer Blick. Denn häufig beeinflusst die Erwartung die Wahrnehmung.
In der Broschüre „Begabte Kinder finden und fördern“ des Bundesbildungsministeriums heißt es: „Hochbegabte sind grundsätzlich in allen gesellschaftlichen Gruppen zu finden. Die Chancen, entdeckt und gefördert zu werden, sind jedoch nicht gleich verteilt.“
Das führt mich direkt zum dritten Punkt: Das Bund-Länder-Programm formuliert das Ziel, die schulischen Entwicklungsmöglichkeiten talentierter Kinder und Jugendlicher – unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status – zu fördern.
Im Programm soll, so heißt es, „besonderes Augenmerk auf die Potenziale von Kindern und Jugendlichen aus weniger bildungsnahen Elternhäusern, insbesondere mit Migrationshintergrund, sowie auf die Ausgewogenheit der Geschlechter, insbesondere der Mädchen im MINT-Bereich, gerichtet werden.“
In der schon erwähnten BMBF-Broschüre heißt es: „Hochbegabte mit Migrationshintergrund, die nicht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, bleiben oft unerkannt und erhalten daher häufig keine optimale Förderung“.
Ich möchte ganz deutlich unterstreichen, was meine Bundestagskollegin Beate Walter-Rosenheimer sagte: Wir wollen nicht Eliten fördern, sondern Talente.
Wir sehen es als eine wichtige Aufgabe, den sogenannten Matthäus-Effekt – wer hat, dem wird gegeben – zumindest abzuschwächen. Wir stellen uns der Herausforderung, auch bisher unterrepräsentierte Gruppen zu erreichen.
Uns BÜNDNISGRÜNEN ist es wichtig, dass allen Familien ein niedrigschwelliges, gut erreichbares Beratungsangebot zur Verfügung steht.
Zudem soll ein transparentes, faires Aufnahmeverfahren sowie die Unterstützung bei der Schülerbeförderung oder bei außerhäuslicher Unterbringung den Zugang auch für die begabten Schülerinnen und Schüler sichern, die zu Hause nicht deutsch sprechen oder in einkommensschwachen Haushalten leben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Begabungs- und Begabtenförderung ist ein Element von Bildungsgerechtigkeit. Mit unserem Antrag unterstreichen wir das ein Mal mehr. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.